Mitteljütland,  Reisen in Dänemark

Auf Zeitreise in Den Gamle By

Aarhus rühmt sich damit, drei schlagende Herzen zu haben: die Universität, seine Kultur und den Hafen. Von dort aus rasen täglich mehrere Schnellfähren über den Kattegat und schaffen eine Verbindung nach Sjælland und zu Kopenhagen. Meist steht das Zentrum Mitteljütlands im Schatten der Hauptstadt. Manche bezeichnen es sogar als ihre kleine Schwester. Doch wer Aarhus kennengelernt hat, der wird dem nicht zustimmen können. Dänemarks zweitgrößte Stadt wurde nämlich nicht nur früher gegründet, es strahlt auch eine ganz andere Stimmung aus.

Dass Aarhus anders ist, spürte ich bereits beim ersten Schlendern durch die alten Kopfsteingassen im Stadtkern, aber auch beim ? Staunen im bunten Glasrundgang über der Stadt. Es spielt keine Rolle, zu welcher Jahreszeit man Aarhus besucht. Aarhus hat das gewisse Etwas.

Es erscheint quasi logisch, dass man in dieser Stadt eine Sehenswürdigkeit erschaffen hat, die ich zu den allerbesten in ganz Dänemark zählen möchte: Den Gamle By.

Den Gamle By – ein Freilichtmuseum inmitten von Aarhus

Den Gamle By – zur Entstehungsgeschichte

Zur Landesausstellung im Jahr 1909 wollte die Stadt Aarhus beweisen, dass es sich als bedeutendste Stadt Jütlands verstand. Gleichzeitig sollte die lokale Geschichte vorgestellt werden. Man beschloss daher, den zum Abriss freigegebenen gamle Borgmestergård zu bewahren und ihn wieder in das Aussehen von 1597 zu versetzen. Der alte Kaufmannshof aus der Zeit Christians IV hatte als einziger seine ursprüngliche Größe erhalten können und galt gleichzeitig als das wohl bestaussehende Fachwerkgebäude aus jener Zeit.

Blick auf den Torvet mit dem Gl. Borgmestergård

Während die Landesausstellung eher weniger erfolgreich werden sollte, stieß der Borgmestergård auf großes Interesse bei den Besuchern. In den folgenden Jahren bot man dem Komitee daher weitere historische Gebäude aus Aarhus an. Und schon bald war die Idee, alte Gebäude aus ganz Dänemark zu erhalten und umzusiedeln, geboren. Das Museum eröffnete 1914 mit dem eindrucksvoll ausgestatteten Prachtbau, der bis heute mit Einrichtungsstücken von der Renaissancezeit bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts glänzt.

Den Gamle By heute

Inzwischen befinden sich 80 historische Gebäude aus 25 Städten aus ganz Dänemark im Freilichtmuseum. Das Museum vermittelt einen erstaunlichen Einblick in die Geschichte dänischer Städte bis einschließlich der Siebziger Jahre. Ab Ostern verwandelt es sich in gelebte Geschichte, wenn Freiwillige und Angestellte in historischer Kleidung den Alltag zur Zeit von 1864, 1927 und 1974 nachstellen.

Alltag in vergangener Zeit – ab Ostern beginnt das Museum zu leben.

Als wir mitten unter der Woche an einem regnerischen Januartag in Aarhus ankommen, sind die Gassen des Museums leer. Ich bedauere, nicht alle Geschäfte und Gebäude geöffnet vorfinden zu können. Doch schon bald genieße ich die Tatsache, dass wir quasi ungestört in der Zeit reisen und schöne Fotos für diesen Artikel und unsere ? Galerie knipsen können.

Alleine in der Zeit

1864

Die größte Fläche nimmt das farbenprächtige Viertel mit den Fachwerkbauten ein. Dieser Teil zeigt Gebäude aus der Zeit von 1550 bis 1900, welche man aus verschiedenen Orten in ganz Dänemark abgetragen und wieder aufgebaut hat. Auf schmalen Kopfsteinpflastergassen, denen man sogar Namen gegeben hat, bewegen wir uns durch eine dänische Stadt aus der Zeit Hans Christian Andersens und noch eher. Damals waren fast alle Städte klein und bestanden fast nur aus Fachwerkbauten, zu dem oft ein kleiner Garten gehörte. Meist gingen die Bewohner Handwerksberufen nach oder waren Kaufleute.

Vestergade in Den Gamle By

Wir können nicht in alle Gebäude gehen, doch es gelingt uns, einen umfassenden Einblick in den Alltag der Menschen jener Zeit zu erhalten.

Das Mädchen mit den Streichhölzern

Wir besuchen unter anderem eine alte Apotheke und erhalten Erläuterungen zu medizinischen Behandlungsmethoden von einem an die Wand projizierten Apotheker. Wir freuen uns sehr, dass auch unsere Kinder fließend Dänisch sprechen, denn das überall wählbare Englisch beherrschen sie noch nicht und wir sparen uns die Übersetzung.

In der Apotheke

In diesem Teil des Museums sehen wir nicht nur alte Gebäude mit Wohnungen und Werkstätten, sondern auch verschiedene Gartenanlagen mit Gewächshäusern, Kräutern und dekorativen Hecken. Als wir durch die Algade am Museumsladen vorbei gehen, haben wir das Gefühl, durch Harry Potters Winkelgasse zu schlendern. Der Weg ist geschwungen, die hohen Gemäuer sind schief und in den Schaufenstern werden ungewöhnliche Waren angeboten. Unsere Kinder haben großen Spaß daran, sich in ihren Phantasien zu verlieren und in jede offene Tür hinein zu spähen.

Auf dem Weg zum Torvet (Marktplatz)

Ich finde zunehmend Gefallen an dem Gedanken, mit den Augen der damaligen Menschen zu sehen und versuche aus möglichst vielen Fenstern nach draußen zu sehen. Welche Aussicht mag sich damals wirklich geboten haben?

Als wir zum Borgmestergården kommen, sind wir beeindruckt. Das Gebäude ist gewaltig und seine innere Ausstattung ein Erlebnis. Nicht nur wir Erwachsenen staunen angesichts des großen Unterschieds zwischen dem Leben von gutbürgerlichen und einfachen Menschen.

Gutbürgerliche Stube im Gl. Borgmestergård

1927

Nach dem Torvet (Marktplatz), auf dem die Besucher seit 2009 mit dem Møntmestergården das größte und aufwändigste Restaurationsprojekt des Museums besuchen können, verändert sich unsere Umgebung. Stromleitungen und Lampen sind über die nun deutlich glatteren Straßen gespannt. Im Schaufenster des Buchladens entdecken wir ein Buch, das die Kinder aus der Schule kennen. Das Staunen über die Geschichte weicht dem Gefühl eines ersten Wiedererkennens. Elektronik, Fahrräder, Zapfsäule und Autos tauchen auf. In einem Schaufenster finde ich den Geruch meiner Kindheit: 4711.

1927

Vor meinen inneren Augen taucht meine Oma auf, die zu jener Zeit geboren wurde und auf deren Nachttisch immer eine dieser türkisen Fläschchen gestanden hatte. Die Kinder amüsieren sich über die alten Fahrzeuge in der Werkstatt und fahren schließlich als Donald Duck und Micky Maus in ihrer eigenen Phantasiewelt spazieren.

Man darf viel ausprobieren im Museum.

In diesem Viertel hängen Plakate und Blechschilder an den Häusern und man kann alte Zeitungen lesen, wenn man möchte. Der Eisenwarenladen und der Seifenladen hätten mich interessiert, doch leider stehen wir vor (noch) verschlossenen Türen. Schous Sæbehuse war in den 20ern übrigens die größte Drogeriekette mit über 800 Filialen im ganzen Land.

Seifenhaus – untergebracht in einem Haus aus Sønderborg (Mitte des 18. Jhd.)

Nachdem wir unseren Kindern im Postamt den Unterschied zwischen heutigen Chatprogrammen und Telegrafie erklärt haben und wieder auf die Straße treten, bemerken wir, dass die Leitungen über unseren Köpfen enden. Vor unseren Augen taucht eine andere Zeit mit unterirdischen Leitungen auf.

In der Havnegade

1974

„Jetzt sind wir also bei dir angekommen“, stellt mein kleiner Junge fest. Ich nicke und freue mich sehr, das Leben zur Zeit meiner Geburt zu erkunden. Ich erinnere mich nur noch dunkel an eine feuerrote Couch in der Wohnküche und grüne Kreise auf weißen Möbeln. Doch wie man Mitte der 70er Jahre wirklich lebte, kenne ich nur aus Filmen.

Ich gestehe, in diesem Viertel habe ich die Anwesenheit meiner Familie vergessen. Zu sehr bin ich damit beschäftigt, Gesehenes mit eigenen Erinnerungen zu verbinden. Es gelingt mir nur selten, doch dann erlebe ich ein Déjà-vu.

Dänische Küche der 70er Jahre

In genau so einer Küche mit genau diesen Verblendungen habe ich schon einmal gestanden – vor fast vier Jahrzehnten und während eines Dänemarkurlaubs.

In diesem Stadtteil darf man durch Wohnungen gehen, wobei es sich anfühlt, als wäre man Gast der Bewohner. Es sieht aus, als seien jene nur mal eben auf die Toilette gegangen! Man darf durch das Leben verschiedener Menschen verschiedenen Alters gehen und vergisst, dass man eigentlich in einem Museum ist. Ein unglaubliches Gefühl.

Lebensecht.

Die Havnegade ist einem realen Stadtbild mit Wohnungen, Geschäften und sogar einer Arztpraxis nachempfunden. Sie atmet das Leben und Denken einer Zeit, in der überall geraucht werden durfte.

Zu Gast in einer Kommune

Überall dürfen unsere Kinder ausprobieren, spielen, entdecken und lernen. Die Museumspädagogik ist abwechslungsreich und lässt wirklich jedes Zeitgefühl vergessen – wenn man denn überhaupt noch eines hat!

Reisen und Fotos prägten auch die Straßen der 1970 er Jahre.

In der Parallelstraße betreten wir einen Aufzug – und landen in einer Zeitmaschine. Vor unseren Augen löst sich das Aarhus, das wir heute kennen, in einer Projektion auf. Häuser verschwinden, die verbliebenen verändern ihr Aussehen und die Jahreszahlen rasen rückwärts. Als der Fahrstuhl sich öffnet, sehen wir auf Wikingerhütten.

Aarhus fortæller

In der Sønderbrogade, besser gesagt unter ihr, befindet sich eine Ausstellung, die die Geschichte der Stadt Aarhus zeigt. 1200 Jahre Geschichte werden in ein interaktives Erlebnis gepackt, das uns alle sehr begeistert.

Geh auf eine Zeitreise!

Ich weiß nicht, wie lange wir dort gespielt, gedrückt, gekurbelt und getreten haben. Als wir wieder ans Tageslicht kommen, ist es kurz vor der Schließung. Unglaublich, wie schnell doch die Zeit vergeht, wenn man auf Zeitreise geht!

Die Menschen erzählen von der Ankunft der Pest in Aarhus.
Dieses Telefon erzählt Witze.
Lebende und sprechende Bilder

Ich komme wieder!

Noch in diesem Sommer sollen im Museum neue Restaurants eröffnet werden. Eine gute Idee, denn die Verköstigungsmöglichkeiten sind derzeit wirklich ungenügend. Wir hatten zwar wie immer Proviant dabei gehabt, hatten uns allerdings mit der Menge verschätzt. Wir fanden lediglich die Weinstube geöffnet vor, doch deren Angebot war für Vegetarier leider mehr als enttäuschend.

Auf dem Weg in Richtung Ausgang kommen wir an verschiedenen Baustellen vorbei. Den Gamle By wird nämlich fortlaufend erweitert und ausgebaut. Dass ich dort wieder hin möchte, ist mir sofort klar. Gerne auch in der rappelvollen Hauptsaison und ohne Kamera. Denn das unglaubliche Erlebnis ist es, das den Besuch von Den Gamle By ausmacht, nicht die Jagd auf möglichst menschenleere Vorzeigebilder. Der in den Bewertungen bei G … maps beklagte, angeblich hohe Eintrittspreis spielt für mich auch keine Rolle. Kinder sind nämlich komplett frei und das Angebot, das ich für mein Geld bekomme, ist jeden Cent wert!

Verschiedene Zeiten im Blick

Ich komme wieder im Sommer, wenn nach Originalrezepten gebacken wird und die Stadt mit Leben gefüllt ist. Vielleicht finde ich in der Bäckerei Madam Mangors vaniljekranse, die ich bis dahin eben selbst backen muss. ( ? Hier übersetze ich das Rezept, das ich auf der Webseite des Museums gefunden habe.)

Und vielleicht begegnen wir uns ja im Sommer?

Herzlichst,


Weitere Informationen:

  • Plane ausreichend Zeit für deinen Besuch ein, man kann wirklich viele Stunden im Museum verbringen, ohne dass man es bemerkt!
  • Es empfiehlt sich, reichlich Proviant mitzunehmen.
  • Es gibt auch kostenlose Parkplätze vor Ort. Parkdauer: 5 Stunden
  • Das Museum hat jeden Tag geöffnet.
  • Weder das Wetter noch die Jahreszeit sind ein Entscheidungskriterium für oder gegen den Besuch.
  • Die Webseite bietet auch Englisch an.
  • Erläuterungen zu den Ausstellungsstücken in Dänisch, Englisch und Deutsch. Gesprochene Aufnahmen in Dänisch und Englisch.
  • Ich empfehle, Tragehilfen für Babys und Kleinkinder mitzunehmen.
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Ich bin Marion und schreibe in unserem Onlinemagazin Meermond zu den Themen Reisen, Fotografie, Kultur und unser Leben in Skandinavien.

13 Comments

  • Christine

    Das finde ich ja so schön, dass Du davon berichtest! Ich war zuletzt als 12jährige dort- das ist schon eine Weile her. Das ist auch das, was mir an Dänemark gefällt: Vieles ist noch wie in den 70ern, als alles etwas gemächlicher ging. Nirgenwo kann man so loslassen und entspannen, wie in solchen Museen, finde ich.

    • Meermond

      Das ist ein interessanter Aspekt, den du da ansprichst! Loslassen und Zeit haben sind Dinge, die man im heutigen Alltag nur schwer umsetzen kann. Manchmal darf man das auch gar nicht.
      In dieser kleinen Stadt war jegliches Zeitgefühl weg. Ich hatte das Handy auf Flugmodus und ließ mich komplett auf das Flair der jeweiligen Zeit ein, in der ich mich bewegte.
      Als dann der Fahrstuhl anfing zu sprechen und die Bilder der Stadt Aarhus „rückwärts“ fuhren, die Häuser weniger und einfacher wurden … war das total irre!!!
      Fahr noch einmal hin.
      Und genieße!
      Viel Spaß

  • Stella, oh, Stella

    Ich stimme dir bei, Gamle by ist das beste Museum in Dänemark. „Aarhus fortæller“ war noch gar nicht geöffnet, als wir letztes Mal dort waren. Noch ein Grund mehr, wieder hinzufahren! Im Sommer, wenn man in alle Läden hinein kann ist es dann noch interessanter, besonders beim Bäcker … 😉 … und die Kräuter im Apothekergarten sind dann gross und kraftig. Ich habe mir dort vom Gewächshaus mit alten Topfpflanzen einmal alte Geraniensorten gekauft. Eine habe ich immer noch.

    Aber es hat was, wenn nicht gar so viele Leute herumlaufen, nicht wahr?

    • Meermond

      Ja, es war wirklich schön, fast alleine dort gewesen zu sein. So konnten wir Fotos machen, wie man sie im Reiseführer finden könnte. Wir hatten Ruhe, alles ansehen und ausprobieren zu können, ohne dass wir auf andere warten oder Rücksicht nehmen mussten. Allerdings standen wir vor vielen verschlossenen Türen und erlebten nicht das, was das I-Tüpfelchen ist: gelebte Geschichte. Ich fahre also noch einmal hin und dann geh ich einkaufen im Schous, schnuppere an den Pflanzen und Kräutern und beiße in Gebäck beim Bäcker… Da lass ich gerne die Reiseführerfotos Fotos sein und freu mich.

    • Meermond

      Ich glaube auch, dass dir so eine Reise durch die Zeit gefallen würde. Man weiß gar nicht, wo man zuerst hinschauen, hinriechen oder hinhören soll. Es freut mich, wenn dir dieser Artikel gefallen hat. Hab einen schönen Sonntag!

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