Auswandern

Was ich schon immer mal erzählen wollte …

Auswandern hat mich unglaublich viel gelehrt. Manche Dinge sind unwichtig geworden, andere hingegen haben an Bedeutung gewonnen. Jeder Tag im neuen Land bringt mir neue Erlebnisse, neue Eindrücke und neue Erkenntnisse. Heute morgen betrachtete ich meine Augen im Spiegel. Sie sind grün wie eh und je, doch etwas ist anders. Ihr Blick ist anders geworden. Ich sehe nicht mehr das, was ich früher gesehen habe. Ich fokussiere anders. Ich bewerte anders. Ich sehe, was mich früher nicht interessiert hat. Es hat was mit mir gemacht, diese Auswanderei. Ich bemerke eine persönliche Veränderung nach der Auswanderung. Und davon will ich heute erzählen.

Im folgenden Artikel möchte ich ein wenig ausholen, um dich in meine Gedankenwelt mitnehmen zu können. Ich werde weder eine fachwissenschaftliche Analyse noch eine mit Quellen belegte Definition der Begrifflichkeiten Auswanderung, Hygge, Achtsamkeit und Verzicht formulieren. Ich habe diese Begriffe erlebt, gelebt und eigene Erfahrungen damit gemacht. Um jene soll es hier gehen.

Auswandern fühlt sich wie eine sehr lange Treppe an. Man steigt Schritt für Schritt in ein neues Leben.

Die Sache mit der Hygge

Kaum kriecht der Herbstnebel über die Felder, geht die Sache mit der Hygge wieder los. Im Herbst ploppen in allen Medien und Zeitschriften, in Werbungen und Ratgebern wieder Wollsocken und Teetassen auf! Ich gestehe, dass ich dessen müde geworden bin. Jede/r macht es sich jetzt hyggelig. „Ha!“, ruft der kleine Teufel auf meiner Schulter. „Aber bitte nicht den viel zu großen, beigen Wollpullover vergessen, dessen Stulpen bis an den Rand der Teetasse reichen!“ Hygge muss wohl so. Oder doch nicht?

Ich habe lange in Dänemark gelebt und gelernt, was Dänen unter ihrer Erfindung der Hygge verstehen. Und ich wiederhole mich (➡ lies hier meine hyggelige Satire), wenn ich sage, dass das Original weit mehr ist als Wollsocken und Teetassen. Hygge kann leise. Hygge kann laut. Hygge kann beige, aber auch bunt. Hygge geht alleine, noch viel besser mit lieben Menschen. In den meisten Fällen hinterlässt dich Hygge gesättigt. Hygge kann kuschelig. ➡ Hygge kann saukomisch. Hygge kann dich aber auch ziemlich dreckig machen. Oder eben nicht.

Ich finde Hygge grandios!

Wie nur erkläre ich, was sie wirklich ist? Auf alle Fälle ist Hygge mehr als die weitverbreitete Annahme, man könne sie mit Gemütlichkeit übersetzen. Das deutsche Wort Achtsamkeit erfasst den Kern der dänischen Hygge meiner Meinung wesentlich besser.

Auswandern lehrt, erneut mit den Augen eines Kindes zu sehen. (Foto: W. Jahn)

Die Sache mit der Achtsamkeit

Noch vor wenigen Jahren stolperte ich über das Wort Achtsamkeit häufiger bei Menschen, die sich mit Yoga, Atemtechniken, Esoterik oder Spiritualität beschäftigten. Zugegeben, das ist alles nicht so mein Ding. Doch wie ich lernen musste, ist es richtig, mit allen Sinnen genau dort zu sein, wo man sich gerade befindet. Nur das zu tun, was man eben gerade tut. Das ist hyggelig und erfüllend.

Was siehst du? Glitzern, Stein oder ein Haus auf einem Stock? (Foto: W. Jahn)

Es spielt keine Rolle, ob ich alleine im Lesesessel sitze oder ob ich auf einem Fest bin. Solange ich mich ausschließlich auf diese Tätigkeit konzentriere, kann ich mein Sein und Tun vollkommen genießen. Selbst die hyggeligste Kaffeerunde mit den allerliebsten Freunden empfinde ich nicht als erfüllend, wenn mein Kopf nebenbei unzählige Nachrichten auf dem Handy verfolgt oder andere Gedankengebäude erklimmt.

Für mich ist Achtsamkeit eine Art gesunder Egoismus geworden: Es tut gut, mich auf mein Tun zu fokussieren. Es ist wichtig geworden, mich selbst in dieser Welt zu sehen, zu fühlen und das alles aktiv zu erleben.

Und als die Welt plötzlich nicht mehr die war, die sie viele Jahre vorher gewesen ist, landete ich ganz schnell beim Wesentlichen: meinen Lieben und mich selbst.

Und dem Staunen im Neuen.

Es ist spannend, eine neue Natur zu entdecken.

Die Sache mit der Auswanderung

Oft werde ich gefragt, was mich mein Leben gelehrt hat. Und jetzt, da ich fast alle Kisten hier in Norwegen ausgepackt habe, auf einen Herbstwald vor meinem Fenster blicke und über diese Frage nachdenke, habe ich endlich eine Antwort gefunden:

Selbst kleine Schritte bewirken Großes.

Nach zwei Auswanderungen verfüge ich über einige Erfahrungen. Ich bin gerade dabei, ein drittes Leben zu entdecken. Und das mache ich in kleinen Schritten. Mein Bekanntenkreis ist noch nicht so groß, dass ich auf Festen tanzen könnte. Ich konzentriere mich auf einzelne Personen und genieße es, sie genauer kennen zu lernen. Ich entdecke meine Umgebung, die neue Vegetation, das Aussehen der Jahreszeiten im neuen Land. Ich konzentriere mich auf kleinste Neuigkeiten wie ein kleines Kind, das das Leben entdeckt. Alles ist neu. Alles ist interessant. Jeder ist neu.

Ich kann und muss mir die Zeit für das Leben nehmen, denn ich bin nicht im Gewohnten gefangen.

Manches entdecke ich neu. Manchmal entdecke ich Neues im vermeintlich Gewohnten.

Ein Fliegenpilz hat nicht immer einen glatten Hut!

Ich habe Zeit, das Leben zu genießen.

Und es mit allen Sinnen zu erleben.

Die Fülle der vielen, kleinen Entdeckungen bereichern mich mehr als so mancher wertvoller Besitz, den ich im Rahmen der Auswanderungen weggegeben habe.

Das Kleine ist größer geworden, als das Große je gewesen ist.

Jetzt klinge ich wie ein Minimalist, nicht wahr? Es stimmt, viel besitze ich nicht mehr. Und doch bin ich reicher als je zuvor. Meine persönliche Veränderung durch Auswanderung bereichert und erfüllt mich. Und dass das offenbar nicht nur mir so geht, sondern auch anderen Auswanderern, zeigen die heutigen Fotos von Wiebke aus Schweden.

Ach ja, und ein kleines bisschen verrückt sind wir vermutlich auch, wir Auswanderer. Denn Verrücktheit gehört wohl auch zum Glück dazu.

In diesem Sinne,

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Ich bin Marion und schreibe in unserem Onlinemagazin Meermond zu den Themen Reisen, Fotografie, Kultur und unser Leben in Skandinavien.

4 Comments

  • Dreamcatcher

    Sehr schöner Bericht über deine Erfahrungen. Heutzutage ist es echt extrem wichtig achtsam zu sein, auf sich und andere zu achten. Als großer Fan von Dänemark habe ich auch schon oft über das Auswandern nachgedacht, es aber bisher nicht getan weil immer wieder etwas „wichtiger“ war. Aber heute ist nicht alle Tage….. Danke fürs inspirieren!

  • Stella, oh, Stella

    Schöne Bilder, wir haben heute auch eine Menge Pilze gesichtet.

    Mich hat meine Auswanderung auch gelehrt, dass die Menschen gar nicht so verschieden sind, wie sie selber meinen.

    Ich verstehe hygge so, dass es alles das ist, was einem Spass macht oder Wohlbehagen bringt, eigentlich egal was es ist, allein oder mit anderen, obwohl in Dänemark wohl eher mit anderen, hier liebt man Gruppenaktivitäten. Einer unserer Vermieter fand es hyggelig, gemeinsam in praller Sonne die Hecke zu schneiden … 😉 😀

    • Meermond

      Da hast du recht, keiner ist besser oder schlechter, das bemerke ich auch. Mir hat es auch persönlich sehr gut getan, mal in den Schuhen eines Einwanderers zu gehen …
      Hygge tut gut. Egal, ob man sich faul oder fleißig hyggt. Hauptsache Spaß, absolut enig 😉

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