Rømø im Winter – Strand und Meer ohne Ende

“Nirgendwo sonst gibt es so breite Sandstrände wie auf Rømø”, freute sich eine Bekannte mit mir, als ich ihr von unseren Reiseplänen erzählte. Aber zu jenem Zeitpunkt interessierte ich mich eher weniger für breite Sandstrände, sondern ausschließlich für das Wellnessresort, in dem wir uns von einer anstrengenden Zeit zu erholen wünschten.    Als ich mich mit meiner Familie nach Weihnachten auf den Weg in unseren Kurzurlaub mache, habe ich noch keine Vorstellung dessen, was mir Rømø an Neuem bieten könnte. Schließlich habe ich weit mehr Sand, Strand und Meer in unmittelbarer Nähe meines Wohnortes als die gesamte Insel!     Während der Fahrt habe ich genug Zeit, mich in die geographischen Hintergründe Rømøs und des Wattenmeers einzulesen. Ein Meer, das meistens nicht einmal zu sehen ist. Ich überlege, was ich dort am Strand machen werde, wenn es doch nur Matsch und keine tosende Brandung gibt.   Ich frage mich, was es wohl ist, das jedes Jahr Abertausend Touristen auf die kleine dänische Wattenmeerinsel lockt, um dort Erholung und Idylle zu finden. Schließlich wollen ja nicht alle ihren Urlaub im Whirlpool und im Saunabereich verbringen … Es muss also ein besonderer Ort sein, dieses Rømø. Ein Sylter sagte uns, es fühle sich an, als betrete man auf Rømø eine andere Welt. Dass Sylt touristisch überlaufen ist und mit Problemen kämpfen muss, weiß ich. Dass sich aber in nur drei Kilometern Abstand davon gleich eine andere Welt aufmachen soll, kann ich nicht wirklich glauben.    Rømø – die Insel der Seefahrer   Sobald ich die Insel sehen kann, bin ich in ihren Bann gezogen. Die Überquerung des Damms ist ein Abenteuer und ihn bei schwindendem Tageslicht zu befahren, ist magisch. Wasser. Überall Wasser! Ich laufe rasch in die Mitte der schmalen Straße und gebe mein Bestes, das Handy ruhig zu halten, bevor ein anderes Auto heranbraust. Ganz Rømø, also auch die Geschichte der Menschen, die auf und mit ihr leben, ist vom Wasser geprägt. Nach dem Verlust einer eigenen Flotte nach Kriegen und Naturkatastrophen hatte fast jeder erwachsene Mann ab Mitte des 17. Jahrhunderts auf deutschen und niederländischen Walfangschiffen angeheuert, um in den eiskalten Gewässern um Grönland auf Jagd zu gehen. Erst später gelang es den Inselkapitänen auf eigene Rechnung zu fahren und Profit zu machen. Ende des 18. Jahrhunderts gab es etwa 450 Walfänger auf Rømø. Die Häuser der Kapitäne [dänisch: kommandør] kann man noch heute bewundern. Die großen, meist rot gestrichenen Höfe sind mit Reetdach gedeckt und zeugen von jener Blütezeit, die die Seemänner auf die ehemals sehr arme Insel gebracht hatten. In einem dieser Kapitänshäuser ist heute ein Museum untergebracht.   Leider hat der Kommandørgården in Toftum nicht geöffnet, als ich ihn besuchen möchte. Gerne hätte ich holländische Kachelfliesen und die bemalten Vertäfelungen bestaunt. Doch auch von außen ist das Bauwerk imposant. Das mächtige Backsteingebäude atmet den Geist einer Vergangenheit, in der Frauen sich um das Gut kümmerten, während die Männer auf Walfang waren.  Toftum Skole   In Sichtweite des Hofes entdecke ich Dänemarks kleinste und älteste Schule. Mit dem Reichtum der Insel konnte und wollte man es sich leisten, Kindern ab fünf Jahren Bildung zu vermitteln.   Ich kann es nicht lassen, den Unterrichtsraum anzusehen und schaue durch das Fenster. Wie viele Schüler sich im Laufe der 90 Jahre, in denen die Schule in Betrieb war, wohl an diesen einen, großen Tisch gedrängt haben? Mit welchen Methoden mag wohl einer der Lehrer, meist handelte es sich um Kapitäne, in dem kleinen Raum unterrichtet haben? Ich erinnere mich an unzählige Unterrichtsstunden in viel zu großen Klassen, beschließe aber recht bald, mich lieber wieder ausführlicher Naturbeobachtung zuzuwenden.    Mir gefallen die vereinzelten, roten Reetdachhäuser inmitten der überwiegend kargen Landschaft. Sie bringen Farbe in das winterliche Ocker. Blüht erst einmal das viele Heidekraut, das die komplette Insel zu bewuchern scheint, sieht das bestimmt wunderschön aus.   Kirche Sankt Clemens Das Leben der Walfänger war nicht risikofrei. Alleine im Jahr 1777, das man als Unglücksjahr bezeichnet, musste der Verlust von 13 Schiffen im Eismeer beklagt werden. Von den 150 umgekommenen Seeleuten stammten 20 von Rømø. Daher entdeckt man jene Jahreszahl auch am häufigsten auf alten Grabsteinen oder den Gedenktafeln (kommandørstene), die sich entlang der nördlichen Friedhofsmauer der Sankt Clemens Kirche in Kirkeby reihen.   Als ich dort ankomme, leuchten die Fenster hell und Gläubige kommen zum Gottesdienst.  Ich empfinde mich als Störfaktor und entschließe mich zu einem kleinen Waldspaziergang, bevor mich eine frühe Dunkelheit in die Sauna treibt.   Rømøs Wälder sind jung   Das einst fast baumlose Rømø zwang seine Bewohner in der Vergangenheit dazu, auch auf alternatives Baumaterial zurückzugreifen. Eine Touristenattraktion ist daher ein Zaun aus Walfischknochen in ?Juvre. Doch mich ziehen eher die hügeligen Wälder, aus denen nordische Flechten und Moose herausleuchten, magisch an. Ich bin froh, dass man sich nach dem Zweiten Weltkrieg verstärkt um eine Aufforstung bemüht hatte.   Die Wege schlängeln sich wie einladende Bänder durch den lichten Wald.   Ich freue mich über das warme Sonnenlicht, das mir besonders leuchtendes Grün schenkt. In der Vråby Plantage gibt es eine sehr reizvolle, kurze Wanderroute. [hier gibt es einen Folder zum ?Download]. Sie führt nicht nur durch eine zauberhafte Dünenlandschaft und Bergkiefernwälder,  sondern auch auf einen der drei höchsten Berge der Insel. Mit stolzen 18 Metern erhebt sich der Stagebjerg über ein flaches Land, das sich erst in der letzten Eiszeit aus Sand gebildet hatte. Der Spaß an der Vorstellung, auf einen “Berg” Rømøs zu steigen, entschädigt die eher unspektakuläre Aussicht.   Ich setze mich auf die Bank und lausche. Es klingt nicht so, wie ich es aus den Wäldern meiner ursprünglichen Heimat Bayern kenne. Es klingt auch nicht so wie in schwedischen Wäldern. Ein Wald auf Rømø rauscht anders. Es ist das Rauschen des Meeres. Es wird Zeit, zum Strand zu gehen.   Strand ohne Ende Ich verkrieche mich in meiner dicken Jacke und mache mich auf dem Weg zum Sønderstrand. Der Tag ist noch immer sonnig und mild, ich kann also meinen Kopf nicht nur sprichwörtlich frei lassen.   An die festen Sandstrände Nordjütlands gewöhnt finde ich es interessant, im weichen Watt zu wandern. Ich höre dem schmatzenden Geräusch zu, welches meine langsamen Schritte begleitet. Wie mag das wohl da draußen sein?     Wo endet der Strand und wo beginnt das Meer? Dort, wo sich das gemusterte Grau im glänzenden Meer auflöst, erkenne ich kleine, sich bewegende Punkte. Noch einmal blinzle ich der von der Sonne gleißenden Ferne entgegen und erkenne, dass es ein Auto ist. Dessen herannahende Lichter werden von hohen Wasser- und Matschfontänen begleitet. Es fährt tatsächlich jemand von einem (N)Irgendwo auf den Strand zu!   Ich frage mich nicht, ob sich der Fahrer im nachgiebigen Untergrund festfährt, sondern warte auf das Wann. Nach einer Weile haben sich die tänzelnden Lichter in einen Kleinbus verwandelt, der wütend den fragil anmutenden Untergrund pflügt. Je näher er dem Strand kommt, desto größer werden die gefahrenen Haken und desto höher die Fontänen. Macht der Fahrer des Wagens das da für mich, damit ich seine Fahrkunst bewundere? Ich bleibe stehen, bis der geländetaugliche Bus eine letzte Schleife auf dem Strand dreht und dann brummend stehen bleibt. Alle Insassen blicken, auch von außen erkennbar, sichtbar stolz auf das Wattenmeer hinaus, das sie soeben bezwungen haben. Der Fahrer öffnet die Fensterscheibe, legt seinen Arm auf dem Rahmen ab und lenkt sein Fahrzeug langsam in Richtung Strandauffahrt.    Der Nationalpark Wattenmeer   Und dann fühle ich mich wieder allein im Watt. Die vielen anderen sonnenhungrigen Spaziergänger bemerke ich nicht, geben sie ja keine aufjaulenden Motorengeräusche von sich.  Leider kann man im Winter die berühmte sort sol (schwarze Sonne) nicht sehen. Im Frühjahr und Herbst tanzen nämlich Tausende von Zugvögeln faszinierende Formen an den Himmel:   Was uns Menschen anmutig erscheint, ist in Wahrheit ein Überlebenskampf, um nicht gefressen zu werden. Die Stare fliegen diese Formationen, um einen angreifenden Raubvogel zu verwirren.   Ich komme zu dem Schluss, dass ich mich inmitten eines riesigen Futtertrogs aufhalte. Im Watt beginnt mit winzigen Algen eine Nahrungskette, die über Würmer, Vögel und Fische bis hin zu uns Menschen reicht. Das pulsierende Ein und Aus des Meeres hat über Jahrtausende hinweg eine Landschaft erschaffen, in der bis heute einzigartige biologische und geologische Ereignisse stattfinden.   Ich genieße die Tatsache, unwichtig in einem Großen zu sein, das seinen ganz eigenen Gesetzen folgt. Gesetze, die schon so mancher unterschätzt hat und daher sein Leben lassen musste. Schaurig schön. Eine Vorahnung dieses Gefühls hatte ich bereits bei der Anreise gehabt, als wir auf dem Damm gefahren waren.   Die Natur des Wattenmeers zu schützen und zu erhalten war 2010 der Anlass, den ?Nationalpark Vadehavet zu eröffnen. Hierzu gehören das Wattenmeer, die Wattenmeerinseln, Skallingen, das Flusstal Varde, Marbæk und Teile des Marschlands hinter den Deichen. Seit 2014 gehört nach dem deutschen und niederländischen Teil des Wattenmeeres auch der dänische Teil zum UNESCO Weltkulturerbe, weil es von außergewöhnlichem, universellem Wert ist.   Als ich bemerke, dass der Strand inzwischen stark zugeparkt ist, entschließe ich mich zu einer entspannenden Massage im Whirlpool. Ich trete den Rückweg an. Wenn Wasser mit dem Licht spielt Die Farben des dänischen Winterhimmels sind schön. Doch sie strahlen noch beeindruckender, wenn sie im Wasser auf der Erde tanzen. Und auf Rømø gibt es sehr viel Wasser. Unser letzter Urlaubstag sollte noch einmal eine Farbenpracht aufgreifen, wie wir sie an unserem ersten Morgen erleben durften: Ich bin dabei, den Tisch für unser Frühstück zu decken und meine Zwillinge spielen Verstecken hinter den langen Vorhängen im Wohnbereich. Ich bemerke ein eigenartiges Farbenspiel hinter den wedelnden Schals. Ein Blick nach draußen genügt und schon beordere ich Alexander mit einem aufgeregten „Los, raus mit dir! Schnapp dir deine Kamera und lauf!“ aus dem Bett. In blindem Vertrauen greift er zur Daunenjacke und tut, wie ihm geheißen. Die Tatsache, dass der Kaffee auf dem Frühstückstisch bereits kalt ist, als er endlich wiederkommt, rechtfertigt meinen ziemlich unromantischen Weckruf. Winterliche Sonnenaufgänge auf Rømø bieten spektakuläre Fotomotive. Ein kleines Dänemark Auf meinen letzten Streifzügen auf der Insel entdecke ich hügelige Heidelandschaften, weite Dünengebiete, knorrige Moore, Militärgelände, Strände, Ferienhaussiedlungen und nordische Wälder – und Menschen, die sich an ein Leben dort angepasst haben. Dabei bemerke ich, dass ich immer wieder Vergleiche zu Orten auf dem Festland ziehen kann. Es erscheint mir so, als habe man auf Rømøs 128 km² eine kleine Auswahl dessen, was das Land Dänemark zu bieten hat, gepackt. Wer noch keine Vorstellung von Dänemark hat, der kann sich also auf der Insel einen guten Überblick verschaffen. Ich habe auf Rømø zwar keine riesigen Steilküsten mit abstürzenden Wahrzeichen vorgefunden, aber sollte dort je ein derartiges Unterfangen wie beim nordjütischen Leuchtturm notwendig werden, dann schaffen das die Inselbewohner auch. Denn wer es gemeistert hat, mit den Herausforderungen der dortigen Natur zu leben, der schubst auch Leuchttürme ins Landesinnere. Schöne (Winter-)Ferien wünscht Weitere Lesetipps: Meermond – so planst du deinen Urlaub in Dänemark Meermond – Reiseplanung: Dänemark im Winter