Silvester in Blåvand
Frei zwischen Weihnachten und Neujahr – das eröffnet Horizonte! Die Entscheidung, Silvester in Dänemark zu verbringen, fällt Mitte November. Eigentlich viel zu spät, um bei der Wahl des Ferienhauses aus dem Vollen schöpfen zu können. Aber wir haben Glück und genießen die Tage rund um den Jahreswechsel in einem der Reihenhäuser im skandinavischen Baustil gleich hinter dem Spar-Markt. Mit „wir“ meine ich meinen Mann (Thomas, 55), unseren jüngsten Sohn (25) samt Freundin (20) und mich (Birgit, 55). Die jungen Leute überlegen nicht lange, als wir sie fragen, ob sie mitkommen möchten. Allerdings bleiben sie nur bis Silvestermorgen.
Silvester. Das bedeutet Hauptsaison, wie ich noch vom letzten Mal weiß, doch das ist rund zwanzig Jahre her. Was das heutzutage bedeutet, lassen wir auf uns zukommen.
Während Thomas und ich von Itzehoe kommend gemütlich in vier Fahrstunden über Heide, Husum, Tønder und Ribe nach Blåvand gelangen, entscheidet sich unser Sohn für die A 7/E45. Seine Route ist zwar dreißig Kilometer länger, man spart aber eine Stunde Zeit ein, weil man bekanntlich auf der Autobahn schneller vorankommt als auf der Landstraße. Denkste! Doch nicht am Bettenwechselsamstag kurz vor Silvester! Das weiß ja wohl jedes Kind, dass dann Stau angesagt ist. Ich muss nicht aufklären, wer eher am Ziel ist, oder?
„Morning has broken“
Gefühlt schon immer weckt uns im Urlaub morgens Cat Stevens mit seinem allseits bekannten Klassiker. Ein paar Minuten vor acht holt Thomas bereits Brötchen. Das ist auch gut so, denn kurze Zeit später stehen die Silvesterurlauber bis auf die Straße Schlange, um sich beim Bäcker fürs Frühstück einzudecken.
Erst gegen neun Uhr ist es richtig hell. Die Tage rund um den Jahreswechsel sind kurz. Es gilt, die Zeit zu nutzen und rauszugehen. Das Wetter spielt mit. Die Sonne scheint und die Temperaturen bewegen sich im einstelligen Plusbereich.
Unsere Tage sind geprägt von Streifzügen durch die Dünen, Spaziergängen am Strand und anschließendem Relaxen im Ferienhaus. Wenn wir vier durch die Gegend streifen, dann gemeinsam. Dabei verfolgt jeder sein eigenes Hobby und manchmal unternimmt der eine oder die andere einen kurzen Abstecher zu einem erspähten Ziel. Während ich meinen Blick schweifen lasse, um ein schönes Fotomotiv auszumachen, steuert Thomas den nächsten Geocache an. Die jungen Leute praktizieren indessen „Pokémon Go“. Drei Smartphones und ein Fotoapparat sind demnach unsere ständigen Begleiter und mit ihnen schaffen wir zwischen zehn- und fünfzehntausend Schritte je Tour.
„Ich krieche da nicht rein!“
„Das stinkt da drin!“, protestiert unser Sohn, als Thomas uns zu einem Bunker mitten in den Dünen geführt hat, in dem ein Geocache zu heben ist. Tatsächlich riecht es nach einer Mischung aus Silvesterböller und Erbrochenem und wir stehen nur ratlos da. Zu uns gesellt sich eine Familie, die ebenfalls auf der Jagd nach diesem Geocache ist. Während wir unverrichteter Dinge weiterziehen, wagt sich die Familie bäuchlings in den Bunker. Vielleicht kommen wir im nächsten Urlaub noch mal her in der Hoffnung, unseren inneren Schweinehund spätestens dann in seine Schranken zu weisen. Einen Geocache nicht zu heben, ist nämlich keine Option.
„Ich brauche noch drei Bonbons“,
sagt unser Sohn wenig später und wischt mit seinen beiden Daumen beherzt über das Display seines Smartphones. Als ich ihn verständnislos ansehe, ergänzt er: „Dann kann ich meinen Karpfen in eine Wasserschlange entwickeln.“ Aha. Wenn er meint, dann her mit den Bonbons. Verstehen muss ich das nicht. Er hält mir sein Smartphone hin, auf dem gerade die ominöse Wandlung des Karpfens stattfindet. Jetzt blickt mich an dessen Stelle besagte Wasserschlange an. Ich erfahre, dass als Nächstes eine Arena zu drehen ist. Böhmische Dörfer. Im Verlauf unseres Streifzuges beobachte ich, wie Sohnemann seinen Blick immer wieder auf das bunt schillernde Display seines Smartphones richtet. Seine Freundin ebenfalls. Beide rubbeln mit den Fingern über ihr Spielzeug, mit dem man übrigens auch telefonieren kann, streicheln und füttern ihre Pokémon. Ich muss mir wohl keine Gedanken machen, was die Zukunft angeht. Wenn die beiden eines Tages so weit sind und Kinder haben, werden sie ihren Nachwuchs mindestens genauso liebevoll verwöhnen wie heute die kleinen virtuellen Figürchen.
Lachen muss ich, als unser Sohn sagt: „Drinnen ist das langweilig!“ Er reagiert damit auf meine Bemerkung, wie toll ich es finde, dass sie ihr Spiel draußen spielen und sich dabei an der frischen Luft bewegen. Sein bester Ausspruch in Bezug auf „Pokémon Go“ ist der folgende:
„Ich hab schon wieder ein Ei ausgebrütet!“
Das sagt er je Kilometer, den wir vorankommen, ungefähr einmal. In derselben Zeit habe ich die Schönheit der Natur und des winterlichen Lichts in mich aufgesogen und ein paar tolle Fotos gemacht. Und Thomas ist zufrieden, weil der nächste Geocache in greifbare Nähe gerückt ist. Toll, oder? Derart unterschiedliche Interessen kommen hier zusammen, und doch verbringen wir den Tag gemeinsam. So funktioniert Familie in Zeiten technischen Fortschritts.
Hochsaison!
Jetzt spüren wir auch, dass der Ort voller Touristen ist. Wenn nahezu alle zweitausend Ferienhäuser bewohnt sind, tummeln sich hier rund zehntausend Leute. Wahnsinn! Man könnte es auch „Völkerwanderung“ nennen, was wir um die Mittagszeit am Strand beobachten. Merkwürdigerweise finde ich das gar nicht schlimm, obwohl ich im Urlaub sonst immer die Abgeschiedenheit suche. Irgendwie sieht es toll aus, wie kurz nach High Noon die Sonne eine skurrile Lichtstimmung erzeugt. Und da stören die Menschen überhaupt nicht. Selbst auf meinen Fotos lasse ich sie zu, und das soll schon was heißen.
Die jungen Leute verlassen uns nach drei Tagen, während wir „Alten“ über Silvester bleiben.
Pack die Badehose ein …
Mit Spannung haben Thomas und ich den 31. Dezember erwartet. Nicht nur, weil wir wissen wollen, ob und wie viel in Dänemark geknallt wird, sondern auch, weil am Hvidbjerg Strand das Neujahrsschwimmen stattfinden soll: „Nytårsbad“ sagen die Dänen dazu. Das Wetter spielt mit. Wir haben 7 Grad Celsius, die Sonne scheint und es weht ein mäßiger Westwind. Optimale Bedingungen. Die Frage, ob ich eine der Badenden sein will, stellt sich nicht. Zuschauen ja, aber selbst reinspringen? Nö, ohne mich. Thomas schüttelt ebenfalls den Kopf, als ich ihn fragend ansehe.
Als wir zum Badesteg kommen, sind die ersten Schaulustigen bereits da. Sogar gebadet wird schon, aber nur von einigen wenigen. Rein und gleich wieder raus, lautet offenbar das heutige Motto. Wer will das den Badenden verdenken?
Touristen und Einheimische finden sich ein. Sie verteilen sich auf der Badebrücke, auf den Dünen und am Strand. Punkt elf geht es los. Die wagemutigen Neujahrsschwimmer entledigen sich ihrer Kleidung und rennen los. Rein ins Wasser, kurz verharren und dann wieder raus.
Ich stehe als Einzige unter der Badebrücke. Diese Position verschafft mir einen interessanten Blickwinkel.
Als nach einer halben Stunde der Ort des Geschehens wieder menschenleer ist, stehe ich, in eine dicke Jacke und einen kuscheligen Schal gehüllt, noch eine Weile da und nicke anerkennend.
Thermoskannen-Event oder: Geocacher unter sich
Noch einen Termin haben wir an diesem Silvestertag. Thomas hat in Erfahrung gebracht, dass um vierzehn Uhr ein Treffen der Geocacher stattfindet. Klar, dass ich da mit ihm hingehe. Als Treffpunkt sind die Maultierbunker am Lille Strandvej angegeben. Für das leibliche Wohl tragen wir Schokolade und Lebkuchen sowie mit Tee gefüllte Thermoskannen zusammen. Eine silbergraue Thermoskanne dient als Logbuch, in das sich alle Teilnehmer des Treffens mit ihrem Nutzernamen eintragen.
Etwa eine halbe Stunde lang stehen wir um einen kleinen Klapptisch herum, trinken Tee und sprechen über das gemeinsame Hobby. Während Thomas und ich nur im Urlaub geocachen und bislang gerade mal zweihundersiebzig Caches gehoben haben, scheint es Gleichgesinnte zu geben, die schon mehr als siebentausend Caches auf ihrer Uhr haben. Nicht schlecht, Herr Specht! Hier treffen wir auch die Familie wieder, die tags zuvor in den stinkenden Bunker gekrochen ist. Diesen Cache sind sie uns immer noch voraus.
Bis zum Sonnenuntergang schlendere ich allein am Strand entlang und banne den orangeroten Abendhimmel auf unzählige Fotos.
Wird denn nun in der Silvesternacht geknallt?
Diese Frage gilt es zu ergründen. Während wir Raclette essen, ist draußen alles still. Auch kurz vor dreiundzwanzig Uhr hören wir nur vereinzelt ein paar Böller.
Wir beschließen, kurz vor Mitternacht zum Blåvandshuk Fyr zu fahren. Keine Ahnung, ob dort etwas los sein wird. Wie gut, dass bei uns „kurz vor Mitternacht“ bedeutet, mit einer halben Stunde „Luft“ loszufahren. Als wir den Parkplatz erreichen, sind erst eine Handvoll Autos dort geparkt. Menschen sind nicht zu sehen, denn es ist stockdunkel. Nur das Leuchtfeuer wirft ein gespenstisches Licht auf die Umgebung. Auf dem Aussichtsbunker bewegt sich etwas. Es sind die Kopflampen einiger Feriengäste, die sich dort oben bereits platziert haben. Wir klettern die Düne hinauf und ich suche mir einen Logenplatz. Niemand wird sich vor mich stellen können, dafür sorge ich. Ich positioniere mein Stativ und prüfe die vorbereitete Kamera. Dann gilt meine Aufmerksamkeit dem Geschehen auf der Aussichtsdüne. Ebenso wie Thomas genieße ich den Fast-dreihundertsechzig-Grad-Rundumblick. Die Luft ist klar und wir erblicken die blinkenden Lichter des Offshore-Windparks. In Vejers Strand sind die Menschen noch wach, das können wir sehen. Ebenso in Oksböl und Esbjerg. Und natürlich in der Ho Bugt und in Blåvand. Bereits jetzt sehen wir die ersten farbenfrohen Raketen in den Himmel aufsteigen.
Nur noch ein paar Minuten …
… dann beginnt das neue Jahrzehnt.
Irgendwann stimmt jemand den Countdown an. Eine große Menge Feriengäste – der Parkplatz ist inzwischen voll und wir befinden uns in feierfreudiger Gesellschaft – zählt mit. Aus einem tragbaren CD-Spieler ertönt „The Final Countdown“ von Europe. Und dann ist es so weit. 2019 ist Vergangenheit, das neue Jahr ist da!
Jetzt geht es richtig los. Ja, in Dänemark wird geknallt! Die spektakulärste Kulisse bietet uns das rund zwanzig Kilometer entfernte Esbjerg. Dort steigen im Sekundentakt Raketen auf. Wunderschön!
Einen so tollen, weiten und klaren Blick hatten wir bisher in keiner Silvesternacht. Es ist auch gar nicht schlimm, dass wir nur zu zweit sind – von den vielen Menschen um uns herum einmal abgesehen. Wir vermissen es nicht, in größerer Runde zu feiern, obwohl das bisher auch immer gut war. Nicht mal die mitgenommene Sektflasche öffnen wir. Der Moment ist schön, so wie er ist.
Schade, dass es schon bald wieder nach Hause geht. Dänemark ist uns in all den Jahren so ans Herz gewachsen, dass wir jeden Moment in diesem Land genießen. Vielleicht stehen ja in einem der nächsten Jahre die Sterne erneut so günstig, wer weiß. Dann kommen wir wieder, gern auch in der Hauptsaison, die das neue Jahr einläutet …
Der heutige Beitrag und alle Fotos stammen von unserer Gastautorin Birgit Rentz, die mit ihrer Familie den diesjährigen Weihnachtsurlaub in Blåvand verbracht hat. Weitere Eindrücke von einem Urlaub dort im Herbst schildert sie ?hier.
Wir bedanken uns ganz herzlich bei dir, liebe Birgit. Beim Lesen fühlt es sich an, als wären wir dabei gewesen. Wir wünschen dir und deinen Lieben noch viele schöne Ferientage in Dänemark!
Ab jetzt mache ich unbezahlte, unbeauftragte und sehr gerne Werbung:
Ihr könnt Birgit Rentz und ihre Arbeit als Lektorin auf ? www.fehlerjaegerin.de näher kennenlernen.
16 Comments
Udo
Hi! Ein sehr kurzweiliger Reisebericht, vielen Dank! 🙂 Wir überlegen über Silvester nach Blavand zu fahren, um mit dem Hund vor Feuerwerk zu fliehen. Hab ich es richtig verstanden, dass es in Blavand selbst eher ruhig war und das Feuerwerk nur vom Leuchtturm in weiter Ferne zu sehen war? LG, Udo
Meermond
Hej Udo, da dies ein Gastbeitrag ist, der einen vergangenen Silvester beschreibt, kann ich das nicht wirklich beantworten. Ich habe die Dänen aber als sehr „knallerfreundlich“ erlebt. Du wirst bestimmt Feuerwerk zu sehen bekommen. Liebe Grüße und viel Spaß
Pingback:
Stella, oh, Stella
Jetzt weiss ich auch endlich, was ein Geocache ist, hab’s gegoogelt. Birgit’s Bilder sind wunderschön, besonders die Sonnenuntergänge.
Birgit Rentz
Ich freue mich, dass dir der Beitrag gefällt. Mir hat es Spaß gemacht, ihn zu verfassen.
Meermond
Die Dingerchen liegen hier rum wie der sprichwörtliche Sand am Meer!
Stella, oh, Stella
Wenn ich ganz ehrlich sein soll, suche ich lieber nach Muscheln und anderen Dingen, das geht ganz ohne elektronische Geräte, aber ich bin ja auch eine alte Oma … 😉
Sternenschimmer
Liebe Marion, lieber Alexander,
zum lesen bin ich leider noch nicht gekommen, aber wohl konnte ich mir die wunderbaren Bilder anschauen.
Ich wünsche euch ein schönes NEUES JAHR. Selbstverständlich ganz viel Gesundheit.
Viele liebe Grüße,
Lilo
Meermond
Wir wünschen dir auch ein gutes neues Jahr voller Gesundheit und Glück, liebe Lilo!
Schön, wenn dir die Bilder gefallen, ich mag sie selbst auch sehr, am liebsten das mit den Winterschwimmern und den Stiefeln ?
Sternenschimmer
Ich finde sie alle schön. Aber neugierig bin ich was in dem Loch/Schacht ist. Habt ihr das mal ergründen können?
In früheren Jahren wäre ich dort sicher reingeklettert: *grins*
Birgit Rentz
Was in dem Bunker ist, wissen wir. Ein Geocache. Aber es kostet Überwindung, hineinzukriechen. Wilde Tiere sollen nicht drin sein, hat man uns versichert. 😉
Sternenschimmer
Danke für deine GUTEN WÜNSCHE! 😉
Meermond
Die Antwort auf deine Frage hast du ja schon bekommen ? bleiben mir nur noch herzliche Grüße
Birgit Rentz
Dass man seine eigenen Bilder mag, bleibt nicht aus. Schön, wenn auch andere sich daran erfreuen. Danke!
Birgit Rentz
Liebe Marion, lieber Alexander, ich freue mich, dass ich bereits zum dritten Mal für Meermond schreiben und fotografieren durfte. Das macht Spaß! Als ich mir eben alles noch mal durchlas, war es, als würde ich diese Tage ein zweites Mal erleben.
Meermond
Wir danken dir.
Wir selbst freuen uns immer wieder, wenn wir alte Beiträge durchlesen. Dieser Blog ist wie ein virtuelles Gedächtnis und das ist schön! Wie wäre es mal mit einer Erinnerung an deinen Sommerurlaub?
https://meermond.de/abgrundtief-urlaub/