Ein Herz im Meerestakt
Wenn der Kopf voll ist und ich das Gefühl habe, meine Gedanken drehen sich wie in einem Karussell. Wenn meine innere Balance aus dem Gleichgewicht geraten ist. Wenn ich ein Gefühl hinausschreien möchte, ohne, dass ich jemanden damit belästige. Wenn ich meine Ohren vor dem Zivilisationslärm verschließen will. Wenn ich den Eindruck habe, mein Ich steht neben mir. Dann muss ich ans Meer.
Hörst
du
es?
Ich nehme meine Jacke vom Haken, schnüre die kniehohen Gummistiefel zu und binde meine langen Locken zu einem festen Zopf. Auf der Fahrt zum Strand spreche ich kein Wort. Ich singe kein Lied. Ich höre keinen Podcast. Das Brummen des Autos ist das einzige Geräusch, das ich zulassen muss und möchte.
Am Strand
Ich stelle mein Auto an der Straße ab. Die Brille lege ich ins Handschuhfach, ich muss nichts in der Ferne lesen können. Der Wind ist kräftig und der Flugsand wirbelt nicht nur im Bereich der Dünen. Ob ich vielleicht doch bis an die Brandung fahren soll? Ich ziehe Mütze, Schal und Handschuhe an und entschließe mich zum Gehen.
Im ersten Moment versuche ich mich in meiner Jacke zu vergraben und presse die Hände tief in die Taschen. Die Schritte auf dem Sand fühlen sich noch etwas unsicher an und meine Gesichtshaut prickelt. Nach einer Weile habe ich mich an das Schleifen der Sandkörner gewöhnt. Meine Schritte werden entschlossener und schneller. Ich überlege, was wohl der Fotograf an der Brandung einfängt?
Am Meer dringe ich an Stellen in mir vor, die ich weder mit höchstmöglicher Disziplin noch durch Motivation erreiche. Manchmal brauche ich nur ein paar Minuten am Strand und schon löst sich belastender Gedankenmüll einfach in Nichts auf. Ich habe den Kopf frei und fülle ihn mit neuen Eindrücken.
Ich rieche.
Ich horche.
Ich bin.
Auf dem Strand finde ich Dinge wichtig, die mir ansonsten eher unwichtig erscheinen. Es macht mir Freude, kleine Sandskulpturen zu suchen und über das fragil anmutende Kunstwerk des Windes zu staunen.
Steine, die im Garten nur Steine sind, wollen am Meer unbedingt aufgehoben werden. Meine Hand giert danach, ihr Kühl zu fühlen. Ihre Form zu ertasten. Glitzern sie? Sind sie marmoriert? Viel zu viele davon landen in meiner Tasche.
Ich gehe weiter.
Ich vergesse völlig die Zeit und laufe an der Brandung entlang. Ich habe Zeit und das Meer begleitet mich dabei. Es ist, als atme es. Aus und ein. Sogar im Winter ziehe ich kurz die Schuhe aus, um ein paar Spuren im Sand zu hinterlassen. Dann drehe ich mich um und beobachte die Wellen dabei, wie sie den Strand wieder säubern. Meine Spuren werden weggewaschen. Wie unwichtig wir doch alle sind.
Winzig klein
im Großen.
Ab und zu beuge ich mich zu einer Muschel hinunter. Ich studiere ihre Muster und verfolge den komplexen Bauplan. Es macht Spaß, einzelne Details zu entdecken. Ich hüpfe von einem Fundstück zum nächsten und möchte sie am liebsten alle mitnehmen. Ich muss dem Drang widerstehen, habe ich doch schon viel zu viele davon.
Das Meer riecht grün!
Immer, wenn die Wellen mich umspülen, versuche ich, den Geruch des Wassers zu erhaschen. Fischig? Tangig? Faulig? Ich bin mir nicht sicher, ob diese Worte wirklich dem Geruch des Meeres gerecht werden. An manchen Tagen riecht es schwer, an anderen Tagen riecht man es fast gar nicht. Aber immer schmecke ich nach einer Weile das Salz. Es legt sich überall auf der Haut ab.
Während ich darüber nachdenke, atmet das Meer unaufhörlich ein und aus. Es lebt.
Und es riecht auch so! Das blaue Meer riecht nicht blau wie der weite Himmel. Es riecht grün! Grün wie das Leben, das in ihm steckt.
Je länger ich entlang der Brandung gehe, desto mehr passt sich mein innerer Takt dem des Meeres an. Meine Schritte werden gleichmäßiger, mein Atem ruhiger. Meine Bewegungen werden automatischer und damit auch unbeschwert. Ich nehme die Mütze von Kopf und überlasse meine Haare dem Wind.
Und dann spüre ich es.
Ich spüre mich selbst.
Und fühle mich frei.
Es ist mir egal, ob andere Menschen am Strand sind oder nicht. Am Meer bin mit mir selbst im Reinen. Mein Kopf ist frei, das Geschrei meiner Gedanken verstummt und meine Seele atmet auf. Das ist immer so, egal, welchen Strand in Dänemark ich aufsuche.
Mein Herz schlägt den Takt des Meeres.
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30 Comments
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lucia
Ein unglaubliches Element, das Meer… endlose Horizonte, die schiere Weite – und die ständige Bewegung, das Auf und Ab der Wellen: Tolle Idee, das mit einem Herzschlag zu vergleichen!
Meermond
Ich danke dir! Ich sehe, du empfindest es ähnlich am Meer!
Frau Stich-Schlinge
Was für ein unglaublich schöner Beitrag und herrliche Bilder, liebe Marion …..mitten ins ❤️
Mein *Meer* ist zwar meist die Elbe, aber die Gedanken, Gefühle sind gleich….nur der Geruch….ist zwar auch am großen Strom sehr unterschiedlich, aber nicht so intensiv, wie am Meer….
Ja wie gesagt: ich hab Meerweh…. ⚓??
Fühl dich lieb umärmelt
Gabi
Meermond
Ich danke dir. Kommentare wie deiner sind sehr berührend. Zu lesen, dass ich jemanden mitten ins Herz treffe mit meinen Beiträgen ist ein großes Kompliment. Ich umarme dich zurück, Marion
Frau Stich-Schlinge
?
Marlies Wolf
schon beim lesen entstand ein wenig Klarheit in meinem Kopf, ich hätte das Meer gern bei mir, denn ich empfinde genauso. Nun muss ich hier in den Wald, in die Berge………..das Meer ist zu weit weg. Hier der Sächsischen Schweiz geht es mir dann aber auch so. Der weg nach draußen befreit vom Gedankenmüll, vom stressigen Alltag. Jeder braucht so einen Platz, jeder sollte ihn für sich finden. Danke für Deine Gedanken und Danke für die Bilder dazu.Ich wäre gern dort oben im Norden.
Meermond
Selv tak! Wenn es aus Worten heraus schon bei dir wirken kann, dann weißt du ja jetzt, wo du dir Meeresbrise holen kannst. Ansonsten halte ich es wie du: Jeder braucht seinen Ort und der muss nicht einmal so weit entfernt sein. Herzliche Grüße
Ingrid Mateen
So wunderschön geschrieben! Trifft genau bis ins Detail und ich brauche keine Brille!! Und los oder Jaaa los und die Freiheit wieder spüren!! Immer und immer und immer wieder!!!!
Meermond
Danke dir! Schön, dass es mehrere Leute gibt, die so einfach drauf losgehen. Auch ohne Brille… ?
ErzieherIn
<3
Christine
Ich will hier wirklich keine Werbung machen, aber ähnliches habe ich in meinem Buch auch beschrieben:
“ (…)Sommer 1973 (…..) (Als alles steht, gibt Papa mich frei) – ich darf losrasen.
Und wie! Ich renne los bin endlich da-Freiheit!! Dänemark!! Glück!! Ich werfe mich auf den Boden, liege auf dem moosigen Boden und betrachte verliebt die kleinen Pflänzchen und Blumen, rolle mich auf den Rücken und schaue in den blauen Himmel über mir. Nun kommt die nächste Etappe: Runter zum Strand. Ich rase die Dünen herab und laufe mit der Jeans direkt ins Wasser. Ich laufe immer an der Wasserkante entlang, das Wasser spritzt hoch und ich werde nass – egal! Ich bin da!! Ungefähr 10 Minuten laufe ich Richtung Rindby. Ich fühle mich großartig – oh Du gelobtes Land! Wie konnte ich es so lange ohne Dich aushalten im staubigen Hamburg, wo es nach Abgasen stinkt, wo Schule und Sport mich stressen. Nach ca. einer Stunde kehre ich zurück, in nasser sandiger Jeans aber total glücklich und gelöst. In diesem Sommer jedenfalls begann meine Liebe zu Dänemark und noch heute spüre ich dieses Lebensgefühl und schaue mir jede kleinste Pflanze, jede Muschel an, als wären es Juwelen und Goldgeschmeide. Und noch heute überfällt mich dieses Gefühl, einfach loszurasen und von Dänamark umarmt zu werden.“
Ich kann da so nachempfinden, was Du da schreibst, schon von Kind an.:-) Liebe Grüße
Meermond
Schön geschrieben und Werbung ist das nicht. Das sind lesenwerte Einblicke ?
Danke dir
Rabenzahn
Wie schön, das fühlen zu dürfen.
Meine Sehnsucht nach Meer ist wieder geweckt.
Meermond
Vielleicht im nächsten Urlaub…? Liebe Grüße
Stella, oh, Stella
Wie du das doch sagen kannst, so poetisch und treffend!
Meermond
Danke dir. Manchmal muss ich einfach solche Texte schreiben. Das fliegt so aus mir raus ?
Stella, oh, Stella
Das kann ich nachempfinden, mir fliegt ja auch manchmal sowas zu.
Sternenschimmer
Wie jedes Mal ist auch dieser Eintrag wieder umwerfend schön.
Diese Weite – ich liebe sie einfach. ♥♡
Liebe Grüße,
Lilo
Meermond
Vielen Dank, liebe Lilo! So wie dir geht es vielen Leuten, vermutlich wollen sie deswegen alle so gerne hier Urlaub machen ?
Herzliche Grüße zurück
Birgit Rentz
In deinen Worten steckt Poesie. Danke dafür!
Meermond
Ich danke dir für deine Wertschätzung ?
Jutta Weiß
Du hast genau das in Worte gefasst, was ich fühle, wenn ich dort am Meer bin. Danke dafür.
Meermond
Bitteschön, das musste ich einfach mal wieder aus mir rauslassen ?
Steffi
Was für ein toller Text! Mir geht es ganz genauso, wenn ich am Meer bin. Aber das ist so selten. 🙁
Meermond
Auch wenn du nur selten ans Meer kommst, tut es dir gut. Und wenn du dich immer wieder an deinem Erleben erfreuen kannst, wirken die Strandspaziergänge auch im Alltag nach. Versuch es mal ?
Claus Hübner
Superschön verfasster Bericht, gerade die schwarz-weiß-Fotos fangen die beschriebenen Stimmungen sehr schön ein. Und am Ende wieder ein Farbfoto, was das wiedergewonnene Leben,die Energie und die Freiheit spiegelt. Klasse, ich bin voll bei dir, nur würde ich nicht im Winter barfuß ins Wasser gehen :-).
Meermond
Lieber Claus, ich freue mich sehr, dass du die gestalterischen Elemente nicht nur bemerkt, sondern auch verstanden hast. Genau so war das Ganze beabsichtigt.
Trau dich mal. Das Wintermeer ist anders und tut richtig gut! Kneipp Kur 2.0!
Liebe Grüße
Claus Hübner
Mal schauen, vielleicht komme ich diesen „Winter“ ja nochmal nach Römö um es zu testen, ansonsten bin ich leider erst wieder im Oktober in Blokhus zum „Spätsommer-Kneipen“.