Ein Leben in anderen Schuhen
Geh hundert Schritte in den Schuhen eines anderen, wenn du ihn verstehen willst! Diese alte indianische Weisheit begegnete mir zum ersten Mal, als ich mich vor einigen Jahren an meine Grenzen gebracht fühlte und nach Hilfe suchte. Ich erfuhr, dass der Gedanke, eben in den Schuhen eines anderen zu gehen, nicht nur Verständnis ermöglicht, sondern auch Mitgefühl. Schließlich haben alle Menschen ihren ganz persönlichen Weg hinter sich und nicht jeden dieser Wege möchte man selbst gegangen sein! Manche Wege wirken bei erster Betrachtung aufregend und abenteuerlich, andere geradlinig und langweilig. Im Tunnelblick fixieren wir uns gerne und ab und an auch vorschnell auf das, was wir sehen wollen. Für Details fehlt uns leider häufig die Zeit: wir vergleichen, wir beneiden, wir verurteilen. Hieraus können durchaus Konflikte und Missverständnisse entstehen. Auch in und mit uns selbst.
Vergleich ist der Dieb der Freude.
T. Roosevelt
Seit inzwischen sechs Jahren gehe ich in den Schuhen eines Menschen, der im Ausland lebt. Nicht immer weiß ich, wie ich durchweg richtig in ihnen gehen muss. Ich verstehe manches nicht, ich interpretiere falsch, ich durchschaue nicht alles und mache Fehler. Oft erinnere ich mich wehmütig an die bequemen Latschen, die ich 40 Jahre lang anhatte. In Schlangenlinien gehe ich meinem eigenen Abenteuer entgegen. Es ist ein fabelhaftes Abenteuer, doch manchmal würde ich gerne umkehren. Nicht immer kann ich vorhersehen, was mich hinter den vielen kleinen Hügeln erwartet.
Dinge oder Situtationen, die man gar nicht kennt, kann man nämlich weder richtig erfragen noch ergoogeln. Hättest du zum Beispiel deinen Arbeitgeber gefragt, ob du zusätzlich zum regulären Urlaub jährlich zwei freie, vollbezahlte Tage pro Kind unter 7 Jahren zur individuellen Nutzung haben darfst, wenn es sowas in deinem erlernten und viele Jahre ausgeübten Beruf überhaupt nicht gibt und das auch kein allgemeiner Standard in Dänemark ist? Ich habe geweint, als ich über den Verfall von vier Tagen in Kenntnis gesetzt worden bin.
Zwischen den Sprachen
Bei uns zu Hause sprechen wir ausschließlich Deutsch. Wir bitten unsere Familien um deutsche Kinderbücher, wenn sie sich nach Geschenken zu Weihnachten oder zu Geburtstagen erkundigen. Es ist uns wichtig, dass unsere Kinder beide Sprachen in Wort und Schrift beherrschen. Darum werde ich meinem frischgebackenen Studenten demnächst auch ein deutsches Buch in sein dänisch-englisches Buchregal stellen. Sprache ist wertvoll und der Verlust der eigenen Muttersprache geht schnell. Mein Großer sprach bis Mitte 2015 kein anderes dänisches Wort als „Hej“. Inzwischen habe ich den Eindruck, dass er sich während unserer Gespräche konzentrieren muss und dass ihm manchmal deutsche Begrifflichkeiten fehlen. Als ich darüber am Wochenende mit Alexander gesprochen hatte, meinte er nur trocken:
Du sagst auch ständig „Ikke også?“ beim Telefonieren mit Deutschen.
Oh je, er hat Recht!
Ich neige dazu, manche Gespräche vorzubereiten. Dazu verkrümele ich mich entweder in die Waschküche, ins Bad oder eben in ein Zimmer, in dem ich mich alleine glaube. Leider höre ich zu oft ein „Mama, du denkst schon wieder laut“. Seit Neuestem höre ich ein „Mama, das spricht man aber so aus“, und dann folgt die korrekte Aussprache einer dänischen Vokabel. Ich beginne, ab und zu auf Dänisch zu denken, ikke også?
Zwischen den Geschmäckern
In meiner Küche steht eine große Tasche mit Sauerkraut, Kirschsaft und dunklem Rübensaft. Im Gefrierschrank liegen schwäbische Maultaschen und im Kühlschrank zwei prachtvolle Kopfsalate in der Größe eines Wagenrades. Glücksgefühl pur!
Brauchst du was? Soll ich dir was mitbringen?
Familie und Freunde versorgen uns mit Dingen aus Deutschland, die wir in Nordjütland nicht kaufen können. Sicherlich, ich könnte und kann hier sehr gut essen und auch ohne Sauerkraut oder schwäbische Maultaschen leben. Aber wenn ich das nicht muss, dann bin ich ziemlich glücklich. Ich muss weder automatisch sämtliches Essen mögen, das in meinem neuen Heimatland üblich ist, noch muss ich die Liebe zu vertrauten Geschmäckern aufgeben. In meinen alten Latschen habe ich nämlich ziemlich gut gegessen und getrunken und in den neuen Schuhen entdecke ich auch nach sechs Jahren immer wieder Unbekanntes. Neugierig schlemme ich mich durch die skandinavische Küche. Manches finde ich interessant, anderes total merkwürdig: gule ærter (gelbe Erbsen als eine Art Püreeeintopf, oder was auch immer das sein soll) oder stuekål (gezuckerter Sahnekohl mit Zimt) zum Beispiel. Dann doch lieber Omas Erbswurstsuppe und Sauerkraut, ikke også?
Zwischen den Kulturen
Ich esse, gehe, denke, spreche, feiere und lebe zwischen den Kulturen. Ich habe Freudentränen in den Augen, wenn ich „Stille Nacht“ in unserem festlichen Bescherungszimmer höre und tanze fröhlich auf dänischen Juletræfesten um einen knallbunten Baum. Ich greife zu englischem Tee, wenn ich am wöchentlichen Frauencafé teilnehme, weil ich weder den dänischen Kaffee noch die hier meist angebotene Skummetmælk mag. Ich feiere midsommer und putze an Nikolaus mit den Kindern Stiefel.
Ich persönlich fasse das als wertvolle Bereicherung auf. Inzwischen verstehe ich sowohl die Schwierigkeiten einer Integration als auch die Entstehung von Subkulturen oder Migrationskulturen. Ich darf ein Leben leben, das sich andere für sich selbst wünschen. Vieles in meinem Leben ist aufregend, neu, schwierig, herausfordernd, belastend, befreiend, verwirrend und großartig zugleich. Ich habe die Dünen quasi vor meiner Haustüre, ich kann jederzeit Zimtschnecken kaufen, wenn ich sie denn wollte. Und an den Tagen, an denen die Verwirrung zu groß ist, drängt es mich wie schon immer an den Strand.
Wobei ich mir inzwischen nicht mehr sicher bin, ob das ein Weg in meinen neuen oder eher alten Schuhen ist. Denn kurz nach der ➡ Schließung der Grenzen im März 2020 sah es in Blokhus so aus:
Der Strand war voll. Überall standen Menschen. Ich blickte in viele ratlose Gesichter.
Diese allgemeine Ratlosigkeit erschien mir eher grenzenlos.
16 Comments
Pingback:
Christine
Liebe Marion ich bin zur Zeit bei Euch dort oben und bin begeistert! Es ist einfach phantastisch hier. Vor allem der raue Wind und die Brandung haben es mir angetan. Ich könnte es mir gut vorstellen, hier zu leben. Ich möchte gar nicht wieder weg.
Meermond
Es freut mich, dass es dir hier gefällt ?hab schöne Urlaubstage ?
Stella, oh, Stella
Wie du dir denken kannst, kann ich mich gut in deine Situation hineindenken, lebe ich sie doch schon seit nunmehr fast 27 Jahren (wo sind die bloss abgeblieben????) Nun hatte ich nie so starke Wurzeln, ich bin eine Vagabundenseele, das macht mir das Leben in einem anderen Land leichter. Aber Quark und Caro-Kaffee kann man doch eigentlich in jedem zivilisierten Land erwarten, oder? 😉 😀
Meermond
Die Zeit rennt. Und wie! ?
Weißt du überhaupt schon, dass es beim Li… Hust… Dl… jetzt Quark gibt? Mit deutschem Fettgehalt? Jesssss. Käsekuchen!
?
Stella, oh, Stella
Eeeeecht? Nix wie hin …
Meermond
Beim nächsten Musiktreff bring ich was mit. Ich möchte gerne nochmal ?
Stella, oh, Stella
Aber klar, du bist immer willkommen … übrigens, du hast wieder deinen Butterbrotbehälter nicht mit bekommen (ich glaube den habe ich jetzt schon über ein Jahr) und auch nicht deine Margariten ….
Meermond
Ich habe einen Butterbrotbehälter? Spændende!
?
Stella, oh, Stella
Ja, so einen aus Plastik, ich glaube da war sogar Käsekuchen drin … da ist auch noch schwach ein Name zu lesen … ?
Meermond
Zeit, ihn wieder mit Käsekuchen zu füllen ?
Stella, oh, Stella
Jahaaaaa
Meermond
Gut. Abgemacht. Nach dem Besuch ist schließlich vor dem Käsekuchen…Ich träume heute von Quark, Enten, King George und abstürzenden Häusern… Schlaf gut, liebe Birgit ?
Alexander
Solange unsere halbrenovierte Küche so aussieht, wie sie nun einmal gerade aussieht, wird die Aufnahme weiterer Butterbrotdosenplastikbehälter kategorisch zurückgewiesen.
Angela
Ein sehr guter Text!
Wenn man doch nur die Gedanken, die du hier beschreibst in die Köpfe einiger Zeitgenossen bringen könnte und ihnen begreiflich machen könnte, dass ein Leben in zwei Kulturen eine Bereicherung ist und man auch diese Liebe von Vertrautem und daneben das Kennenlernen von Neuem als große Chance für alle ( die „Einheimischen“ und die „Fremden“) sehen würde, der Welt würde es besser gehen.
Meermond
Danke dir für deine Worte. Die Welt bräuchte wirklich mehr Empathie. Ganz herzliche Grüße ?